Die Biermeile findet ja auch ohne uns statt

Obwohl ich nicht twittere, habe ich eine Lieblingstwitterin (zufälligerweise ist sie in Liebe mit Katzen). Und eben diese Dame erinnerte mich gestern daran, dass es ja auch noch die Biermeile gibt. Beim Besuch der Internetpräsenz der Biermeile, wurde ich belehrt, dass diese Veranstaltung ein Motto hat. Und dass das Motto dieses Jahr klangvoller nicht sein könnte: „Bier macht uns zu Freunden!“
Von diesem „uns“ möchte ich mich ausdrücklich ausgeschlossen wissen.

Aus Gründen der unfreiwilligen Nachbarschaft über viele Jahre hinweg, verabscheue ich das „größte Bierfestival der Welt“ ausdauernd und heißblütig, dennoch spürte ich auf einmal einen irrationalen kleinen Stich der Wehmut, als ich an dieses stinkende, urin- und bierüberflutete Straßenfest erinnert wurde. Denn diese Nachbarschaft ist inzwischen ja nicht mehr. Gott sei Dank, eigentlich. Und trotzdem ist alles, was mit Friedrichshain verbunden ist auch wehmütig besetzt und also auch das alljährliche Rituale der Biermeile und meiner Verachtung derselben.
Tatsächlich machte die Erinnerung daran einen derartigen Eindruck auf mich, dass ich heute Nacht von der Biermeile träumte.

Ich träumte, ich liefe die Karl-Marx-Allee lang, von Weberwiese aus Richtung Frankfurter Tor und betrachtete die gegenüberliegende Straßenseite. Bierstand reihte sich an Bierstand und dazwischen das große Rülpsen und Furzen des vereinigten Proletariats. Peter Kraus, der sich mit 104 gerade frisch hatte liften lassen, wackelte parkinsonesk auf einer kleinen Bühne vor dem Biergarten „Oranke“. Davor eine Horde Bierzombies, die mit ihren dicken Bäuchen immer wieder gegeneinander taumelten, was sie am Umfallen hinderte, einerseits, und sie andererseits in Bewegung hielt.
Der Traum verlor sich dann in einer etwas zusammenhanglosen Kritik am Umbau der Weberwiese und Berlins Stadtentwicklungssenatorin Ingeborg Junge-Reyer, die ich ebenfalls ausdauernd und heißblütig nicht leiden kann, aber das ist eine andere Geschichte.

Das erste Mal machte ich Bekanntschaft mit der Biermeile an einem Freitagvormittag vor sechs Jahren. Da waren der Karl-Marx-Allee quasi über Nacht sämtliche Elemente eines Volksfestes gewachsen und schon konnte man Eltern mit kleinen Kindern beobachten, die noch vor der Mittagszeit Bier in sich schütteten und geifernde Töne von sich gaben, vermutlich eine Art Lachen.
Die Biermeile ist auch immer ein Debütantinnenball zukünftiger Alkoholiker.

Und so wurden F und ich während der sechsjährigen Anwohnerschaft am ersten Augustwochende regelmäßig Zeuge, wie besoffene Eltern ihre Kinder in Verantwortungspositionen drängen, wo die Kleinen wirklich nichts verloren haben. Eindrucksvoll im Gedächtnis ist mir geblieben, wie Vater, Mutter, Kind nachts ihren Heimweg von der Biermeile aus antraten und die Friedenstraße lang liefen.
Das Kind, ein etwa achtjähriges Mädchen, konnte noch sicher gehen, die Eltern strauchelten und wankten, der Vater lief Schlangenlinien auf der Fahrbahn.
Die Mutter sagte zum Kind: (lallend) „Pass ma uff deenen Vater uff. Dit der ja nich übafahrn wird.“
Das Kind: (resigniert und gefasst) „Papa, komm bitte von der Straße.“
Vater: (weinerlich) „Lassmehinruh.“
Die Kleine versuchte eine Weile den uneinsichtigen Vater zu überzeugen, während die Mutter irr lachte. Schließlich probierte das zierliche Mädchen den beleibten Vater zu stützen und auf den Bürgersteig zu bugsieren. Es war grotesk, wie die Kleine diesem riesigen Erwachsenen Halt geben wollte. Anstatt dass der Mann sicher ging, zwang er seinem Kind denselben Torkelgang in der Straßenmitte auf.
Das letzte was wir von dieser Familie hörten, war die verzweifelte Stimme des Mädchens in der Bemühung den Eltern Verantwortung abzutrotzen.
Solche Szenen gibt es viele auf der Biermeile.

Völlig enthemmte Erwachsene, die dem unfreiwilligen Zuschauer ihre blanken Hintern und andere Privatangelegenheiten präsentieren, während Urin aus ihnen tropft. Die hilflosen Grünflächen um die Karl-Marx-Allee sind nach der Biermeile ein Trauerspiel an Müll und Siff.
Vor den Haustüren der Anwohner sammeln sich Urinlachen und Erbrochenes, für die nächste Zeit haftete einem beim Betreten der Häuser der hässliche Gestank menschlicher Ausscheidungen in der Nase.
Der Gang zur U-Bahn, zum Ostbahnhof oder Supermarkt wird zum Spießrutenlauf durch dicht gedrängte, Bier verschüttende und stolpernde Rentner, Prolls und Touristen, die eine große Ballermann-Sause aufspielen und sich dabei gerne mal eins auf die Fresse geben.
Und den Gedanken, noch schnell Geld bei der Sparkasse zu holen, sollte man rasch verwerfen, dafür platzt der Geldautomatenraum aus allen Nähten und noch tagelang nach der Biermeile ist es unmöglich Scheine abzuheben, die kleiner als 100 Euro sind.

Einmal war da dieses Paar, nach Art junger Brandenburger, das gerade als F und ich durch den Hof nach draußen wollten, sich begann am Hoftor zu begatten. Da war es noch hell und das Paar dennoch nicht mehr in der Lage sich einigermaßen aus der Situation zu retten. Mit hochgerutschem Rock und halb heruntergelassenen Hosen wankten sie schließlich die Palisadenstraße lang, abwechselnd lallend und gackernd.
Ich hoffe sehr, dass sie der Gnade eines Filmrisses entkommen sind. Und vielleicht die ein oder andere Geschlechtskrankheit für die beiden rausgesprungen ist.

Wie ich soeben herausfand, gibt es noch von anderen Stellen Kritik an der Biermeile:
RTL hat sich anlässlich der Biermeile 2009 in Publikumsbeschimpfung versucht und einen überaus anschaulichen, kurzen Bericht des Treibens abgeliefert.

Auf indymedia schließlich wird über Neonazis auf der Biermeile geschrieben und es werden recht eindrückliche Fotos gezeigt.

Und ich bin froh, überkommt mich doch, nachdem ich mir den jahrelang angewachsenen Berg aus Ekel endlich von der Seele schreiben konnte, eine gewisse Ruhe. Die Biermeile findet ab jetzt ohne uns statt. Gott sei Dank.

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8 Antworten zu Die Biermeile findet ja auch ohne uns statt

  1. Peter schreibt:

    Das klingt ja wirklich furchtbar – „Bierfest“, puh. Ich finde solche „Volksfeste“ auch immer schrecklich und meide sie, nicht nur wegen der Betrunkenen, sondern auch wegen dieses Massenauftrieb- und -belustigungscharakters. Die Kieler Woche mit 1-2 Mio. Besuchern versetzt den Innenstadtbereich von Kiel auch immer für mehrere Tage in den Ausnahmezustand…

  2. Sebastian schreibt:

    Ich kenne ähnliches von der Travemünder Woche. Genau wie die Kieler Woche eigentlich eine Regatta, was genau niemanden kümmert, alles eine reine Sauferei. Früher war ich sogar gerne da. Ach, ich weiß auch nicht. Das Bierfest klingt doch noch eine Spur schlimmer.
    Hier in Stuttgart war eine meiner ersten Aktionen, um Anschluss zu finden, zu den Jusos zu gehen (lol). War sehr witzig, wir hatten da auch einen Stand bei einem Straßenfest. Das war eigentlich sehr ruhig. Dass mich solche Ansammlungen generell beunruhigen, dafür kann ja keiner was. Ich finde es gut, dass ihr da weg seid.

  3. Claudia schreibt:

    Besonders furchtbar die von Dir beschriebene Szene mit dem Kind. Ist es in einem solchen Fall aussichtsreich, das Jugendamt einzuschalten? Oder müssen die Eltern das Kind erst verprügeln oder hungern lassen, ehe ihm geholfen wird?

    • Lotta Gruen schreibt:

      Ich kenn mich da leider nicht aus.
      Damals haben wir nur mit offenen Mündern auf dem Balkon gestanden und das Ganze beobachtet. Heute, denke ich, würde ich da aktiver vorgehen. Aber letztlich ist der Handlungsspielraum leider begrenzt.

  4. Herr von Katz schreibt:

    Der handlungsspielraum ist immer nur durch die eigene Person begrenzt, manchmal durch den Körper an sich, oder durch den Geist, der den Körper nicht bittet.
    Im nachhinein weiß man vieles besser und würde oder möchte anders handeln, doch man hat es damals nicht getan udn das ist der eigentliche Punkte. Hätte, hätte Fahrradkette. Nun auch du hast mcih aufmerksam gemacht auf die Biermeile. Ich habe mir schon etwas ähnliches gedacht, als ich gestern mit Verwunderung feststellen musste, dass auf der Karl-Mary-Allee wieder kräftig gehandwerkt wird. Dachte kurz an WM und dann an Bier, Biermeile dachte ich, jetzt weiß ich es. Gut.
    Es gibt überall solche Menschen, die verantwortungslos und besoffen mit ihreen Kindern umgehen, bzw. nicht mit ihnen umgehen oder ignorieren, weil sie einen im Tee haben, das passiert auf Volksfesten, Jahrmärkten und in den meisten Fällen einfach zu Hause, wo man es nicht mit bekommt.

    • Lotta Gruen schreibt:

      Wo man es nicht mitbekommt… – Ja, da haste Recht.
      Und da wird man nie groß von Außen helfen können. Entweder die Eltern sehen ihr monströses Verhalten ein oder jede gutgemeinte Intervention versandet.
      Aber vielleicht, wenn solche Kinder miterleben, dass es andere Erwachsene gibt, die mit ihnen fühlen, vielleicht merkt sich eines dieser Kinder das und kann darauf zurückgreifen, um seiner eigenen Wahrnehmung zu vertrauen. Später einmal, wenn es alt genug ist, könnte ihm das helfen, sich aus den kranken Familienstrukturen zu befreien.

  5. Herr K. schreibt:

    Ich wohn‘ seit drei Jahren in F’hain und seit 2 unweit der Weberwiese und noch nie hab ich einen Fuß auf die Biermeile gesetzt. Ich habe das dumpfe Gefühl das könnte sich heuer ändern und ich weiß noch nicht ob ich das gut oder schlecht finden soll.

  6. tonari schreibt:

    Bisher auch ohne uns, aber in diesem Jahr waren wir der Verlockung des Hopfenblütentees erlegen. Nett wars. Wir haben es allerdings auch nicht übertrieben 😉

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